"Virus-Brutstätte Europas", "Die Corona-Vertuscher", "Gier und Versagen", das sind nur einige der aktuellen Schlagzeilen über den Skiort Ischgl in Tirol. Der Vorwurf: Ischgl habe zu spät auf das Coronavirus reagiert und sei mit Schuld an der massiven Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 in ganz Europa. Gar von Vertuschung aus Habgier ist die Rede. Die Silvrettaseilbahn AG wehrt sich in einem offenen Brief gegen die Anschuldigungen.
Was ist passiert? Bereits am 5. März hatte das Isländische Gesundheitsministerium den Skiort Ischgl – neben Iran, Südkorea und Wuhan – als Risikogebiet eingestuft. Zuvor waren bei einem Flug der Icelandair aus München 19 Personen positiv auf das Coronavirus (SARS-CoV-2) getestet worden. Sie waren alle auf dem Heimweg aus dem Skiurlaub in Ischgl.
Am 7. März meldet Ischgl den ersten offiziellen Coronafall. Ein deutscher Barkeeper der beliebten Après-Ski-Bar "Kitzloch" habe sich mit dem Virus SARS-CoV-2 infiziert (Skigebiete-Test berichtete). Einen Tag später erklärte Landessanitätsdirektor Franz Katzgraber, es sei "aus medizinischer Sicht wenig wahrscheinlich, dass es in Tirol zu Ansteckungen gekommen ist". Aus heutiger Sicht – mittlerweile stehen alle 279 Gemeinden in Tirol unter Quarantäne – eine dramatische Fehleinschätzung.
Das zeigt sich bereits am 9. März, als bekannt wird, dass der Barkeeper 15 weitere Menschen angesteckt hat. Daraufhin lässt das Land Tirol am 10. März das "Kitzloch" und alle Après-Ski-Bars in Ischgl schließen. Am 12. März verkündet Ischgl das vorzeitige Saisonende. Tags drauf erklärt die österreichische Bundesregierung Ischgl und das Paznaun zum Risikogebiet und verhängt eine Quarantäne (Skigebiete-Test berichtete).
Ausländische Urlauber dürfen das Gebiet jedoch noch verlassen – und sorgen damit womöglich für eine Ausbreitung des Coronavirus in ganz Europa. Allein in Deutschland gibt es laut Medien rund 300 Fälle mit nachweislicher Verbindung zu Ischgl. In Norwegen sollen es über 500 Fälle mit Ursprung im Paznaun sein. Aus heutiger Sicht eine dramatische Entwicklung.
Gegen die Vorwürfe, die Verantwortlichen im Paznaun hätten aus Profitgier zu spät gehandelt, wehrt sich jetzt Günther Zangerl in einem offenen Brief. Der Vorstand der Silvrettaseilbahn AG schildert darin, dass angesichts der zum damaligen Zeitpunkt bekannten Fakten, seiner Ansicht nach, verhältnismäßig gehandelt worden sei. Der offene Brief im Wortlaut:
"Sehr geehrte Damen und Herren!
Auch in Zeiten, in denen die Welt, zumindest aber das ganze Land und die Republik zusammenhalten sollten, scheinen für einige Sündenböcke immer noch gelegen zu kommen. Ein derartiger Sündenbock ist aktuell Ischgl im Paznaun. Die Schlagzeilen könnten reißerischer nicht sein: „Virenschleuder Europas“ ist noch eine der harmloseren, die derzeit vor allem in den sozialen Medien kursieren, letztlich halten sich aber auch vermeintlich seriöse Medien nicht mit massiver Kritik an Behördenversagen und Krisenmanagement zurück.
Mehr oder weniger direkt wird uns jetzt unterstellt, aus Profitgier die Ansteckung hunderter Menschen mit dem Coronavirus und dessen anschließende Verbreitung billigend in Kauf genommen zu haben. Den seit Wochen, speziell aber in den letzten Tagen rund um die Uhr unter Hochdruck arbeitenden Gesundheitsbehörden wird offen Versagen bzw. Vertuschung vorgeworfen.
Dazu kurz aus Sicht eines in die Geschehnisse der letzten Tage direkt Involvierten:
Es können sich wohl die wenigsten nur ansatzweise vorstellen, was es für Entscheidungsträger bedeutet, eine bis dahin äußerst erfolgreiche Skisaison vorzeitig zu beenden und damit – in unserem Fall – hunderte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des eigenen Unternehmens, in letzter Konsequenz aber große Teile der Wirtschaft einer ganzen Region in eine massive Unsicherheit zu stürzen, in Einzelfällen wohl auch in ihrer wirtschaftlichen Existenz zu gefährden. Vor dieser Entscheidung standen wir bzw. die Gesundheitsbehörden auf Landes- und Bezirksebene vor einer Woche.
Zu diesem Zeitpunkt waren bekanntlich die ersten positiv auf COVID-19 getesteten Fälle in Ischgl aufgetaucht und auch schon behördliche Einschränkungen verfügt worden. Wir haben diese Anordnungen selbstverständlich mitgetragen und unternehmensintern weitere Beschränkungen verfügt. Durch die Absonderung von weiteren Verdachtsfällen schien der Gefahr einer Weiterverbreitung wirksam begegnet, der Gesundheitsschutz für Einheimische, Gäste und Mitarbeiter somit vorerst gewährleistet.
Dennoch war klar, dass die Wintersaison nicht mehr zu retten sein wird und es primäres Ziel sein muss, am Wochenende keinen Gästewechsel mehr zuzulassen. Eine geordnete Abreise der Gäste zum Wochenende hin schien im Hinblick darauf, rechtzeitig alle dafür notwendigen Vorkehrungen treffen zu können und keine Panik zu verbreiten, die beste Lösung. Dies mit dem seinerzeitigen Wissensstand um Ansteckungszahlen und vor allem hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit einer Übertragung des Virus. Dass sich die Ereignisse im Anschluss daran derart überschlagen würden, war zu diesem Zeitpunkt nicht ansatzweise abzusehen.
Nach den dramatischen Entwicklungen der nächsten Tage und mit Wissenstand heute wäre eine Quarantäne wohl bereits bei Aufkommen des ersten leisesten Verdachtes auf einen Erkrankungsfall die effizienteste Maßnahme zu Eindämmung einer Weiterverbreitung des Virus gewesen (dies vor dem Hintergrund, dass der räumliche Geltungsbereich und die Eingriffsintensität entsprechender Maßnahmen in der Folge nahezu im Stundentakt verschärft wurden). So zumindest sehe ich das.
Dafür hätten die Gesundheitsbehörden nach dem Epidemiegesetz angesichts der zu diesem Zeitpunkt bekannten Fakten aber gar keine rechtliche Handhabe gehabt, zumal derart einschneidende Maßnahmen in einem Rechtsstaat ja immer noch verhältnismäßig sein müssen.
Bevor Sie daher vorschnell (ver)urteilen, versetzen Sie sich abschließend bitte kurz in die Lage eines Behördenvertreters, „Liftkaisers“ oder sonstigen Entscheidungsträgers und fragen sich ehrlich, ob sie selbst eine solch weitreichende Entscheidung mit all ihren Konsequenzen auf Basis von zu diesem Zeitpunkt noch unbestätigten Vermutungen getroffen hätten. Nur in diesem Fall hätten Sie im Nachhinein alles richtig gemacht.
Ischgl und auch allen anderen von dieser – bis vor wenigen Tagen noch unvorstellbaren – Krise betroffenen Regionen wäre in Zeiten wie diesen mit Solidarität jedenfalls weit mehr geholfen als mit den aktuell in einigen Kreisen kursierenden Anschuldigungen. Jetzt gilt es, gesund zu bleiben und die Ausbreitung des Virus wirksam zu verhindern.
Halten wir daher zusammen und seien wir solidarisch – wenn wir diese Krise gemeinsam überstanden haben, werden wir Ischgl als starken Motor für die Wirtschaft in unserer Region und darüber hinaus wieder brauchen.
Mit freundlichen Grüßen
Günther Zangerl, Vorstand der Silvrettaseilbahn AG"